Das Leben der Schüler in Corona-Zeiten

Berufsschüler aus Donauwörth sprechen offen über ihr Leben in der Corona-Krise – und über fehlende Achtung vor den Jungen in der Pandemie.
von Thomas Hilgendorf

Es ist alles anders an der Ludwig-Bölkow-Berufsschule in Donauwörth. Und nicht nur dort, im Schulhaus, merkt man das. Im Stauferpark, wo eine ganze Reihe an Schulen beheimatet ist, pulsiert das Leben eigentlich spätestens allmorgendlich bereits ab kurz nach sieben. Doch derzeit schlendern nur ein paar ältere Schüler über die weitläufigen, betonierten Pausenhöfe, hinein in die Flachbauten zum Unterricht. Corona hat alles verändert, das spürt jeder hier.

Die Donauwörther Berufsschüler haben Routine beim Testen

Die Veränderung ist unüberhörbar, im zweiten Stock, Abteilung „G“ wie Gesundheit. Enrico Oeser empfängt seine Schülerinnen – es sind wirklich nur Schülerinnen – freundlich, aber bestimmt zum obligatorischen Corona-Selbsttest. Er nimmt das ernst, nicht nur weil sich das für künftige medizinische Fachangestellte gebietet, sondern weil er es so kennt. Oeser hat früher als Krankenpfleger gearbeitet, bevor er Berufsschullehrer wurde. Desinfektion, Abstände, Masken, fein säuberliches Kontrollieren der Selbsttests. Oeser sagt, er habe Glück beim Testen, dass so wenige Schüler im Haus seien; nur die Abschlussklassen sind aktuell „in Präsenz“ vor Ort. Oeser ruft immer nur sechs Schülerinnen gleichzeitig hinein in den Raum 225. Die anderen warten derweil in einem der anderen verwaisten Räume. Für diejenigen, die die Reihenfolge nicht mehr parat haben beim Selbsttest, gibt es eine Powerpoint-Präsentation auf einem überdimensionalen Flachbildschirm. Aber die meisten haben Routine, gemeckert wird nicht, auch nicht geflachst oder gekichert. Es gehört halt dazu.

Im Klassenraum warten die einen auf ihr Ergebnis, die anderen darauf, dass sie drankommen. Sie alle tragen Masken, aber sie reden, wie 18-Jährige eben miteinander reden, ganz normal. Darauf angesprochen, was diese Zeit mit ihnen mache, kommt von Helena* aus der letzten Reihe unumwunden die Antwort: „Scheiße.“ Das ist ehrlich, es braucht kein Drumrumreden, kein netteres Wort dafür. Das Nicken der anderen spricht Bände. Doch Helena will ihre spontane Antwort erklären: „Wir arbeiten im Betrieb, ab und zu sind wir in der Schule. Dann fallen wir ins Bett. Das war’s. Mehr tun wir eigentlich nicht seit einem Jahr. Nur das Arbeiten findet statt. Wir leben vor uns hin.“

Schülerin aus Donauwörth: Mit Corona kam plötzlich eine Grenze

Julia pflichtet ihr bei: „Von einem Tag auf den anderen war da eine Grenze.“ Vor Corona und nach Corona – diese Schranke, eine Zäsur im Leben der jungen Menschen, wird immer wieder betont. Viola sagt, dass es nur möglich sei, mit den engsten Freunden irgendwie in Kontakt zu bleiben, andere Bekannte verschwänden im Dunkeln. Man sieht sich nicht mehr, sie sind weg. Keine Ahnung, was sie tun, wie es ihnen geht. Das Miteinander sei weggebrochen, die viel zitierten „sozialen Kontakte“. Ein politischer Begriff hat das umhüllt, was für Menschen – besonders junge – das Normalste der Welt sein sollte. Er ist bei einigen schier angstbesetzt. „Man schaut immer nach der Polizei oder nach den Nachbarn, wenn mal jemand vorbeikommt“, sagt Julia – selbst wenn einen nur eine einzelne Freundin besuche. Wenn sie doch mal unter mehreren sein sollten, draußen, dann geschehe das längst nicht mehr in lockerer Atmosphäre. Der verstohlene Schulterblick, er gehöre nun dazu. Seit über zwölf Monaten habe sich nicht viel verändert, berichten die Schülerinnen unisono. „Es ist ein verlorenes Jahr“, bricht es aus einer heraus. Am Anfang sei da noch Positives gewesen: mehr Zeit in der Familie, Entschleunigung, weniger Stress an sich. Das habe sich geändert, die gesamte Stimmung. Die ein oder andere ist zu Hause ausgezogen.

Die Menschen werden dünnhäutiger, grantiger

Allesamt arbeiten die jungen Frauen der Gesundheitsklasse in Arztpraxen. Dort sei die Atmosphäre bisweilen ebenfalls schwierig, sagen viele; man merke, dass die Patienten Monat für Monat dünnhäutiger, grantiger würden. Nicht alle, aber sehr viele eben. „Man kriegt nichts zurück“, erklärt Kathrin. Den Frust nehme sie mit nach Hause. Er demotiviere zusätzlich.

Was die Schule während der Pandemie angehe, so habe dies zwei Seiten, wie Julia erklärt. Es sei gut, überhaupt in die Schule kommen zu können – da treffe man wenigstens hier und da noch freundliche Menschen –, aber der Unterricht sei anders geworden. Theorielastiger.

In der Tat komme die im Gesundheitsbereich so immens wichtige Praxis seit über einem Jahr zu kurz, erklärt Enrico Oeser. Aus Gründen des Infektionsschutzes könne man kaum praktische Übungen machen: EKG anlegen, Labortests aller Art. Wenn die Schüler dies nicht in den Betrieben übten, dann entstünden klare Lücken. Am 19. Mai sind Abschlussprüfungen. Oeser weiß noch nicht, wie sich einige darin schlagen werden. „Viele der Stärkeren sind in dieser Zeit des Frontalunterrichts auf Abstand stärker geworden – die Schwächeren …“ Er macht eine Pause und sagt nur: „Na ja …“ Oeser will es nicht aussprechen. Und: Diejenigen, die zu Hause oder im Betrieb eine bessere technische Ausstattung haben, seien ebenfalls im Vorteil. Die Pandemie, die so vieles offenlegt, lastet bisweilen wie Blei auf den Schultern der Schüler wie auch der Lehrer und Eltern.

Der Lehrer ist auch Unterstützer und Helfer, nicht nur Wissensvermittler

Und doch sieht sich der Pädagoge auch in der Rolle desjenigen, der nicht nur lehrt, sondern unterstützt und Mut macht. Aber manchmal sei das schwierig. „Ein gutes Drittel wird in diesem Beruf wohl nicht weitermachen“, prognostiziert Oeser. Zu schlecht der Verdienst, dazu komme oftmals zu wenig Achtung – seitens der Gesellschaft und von so manchem Arbeitgeber.

Die Defizite seien schon lange klar, man sei sehenden Auges mit dem Gesundheitssektor in die Krise geschlittert. „Wir können uns das heute kaum vorstellen, aber vor 15, 20 Jahren wurden Stellen abgebaut; Krankenpfleger waren gar nicht mehr gewollt.“ Es reiche nicht, den Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, mal einen Sommer lang Beifall zu klatschen. Vielmehr gälte, nachhaltigein menschenwürdigeres System auch für die Angestellten zu etablieren. Familienfreundlich, menschenfreundlich, ausreichend bezahlt – sodass sich medizinische Angestellte und Pflegekräfte eine Wohnung leisten können. Doch momentan ploppen die Probleme auch an ganz anderer Stelle auf bei den Berufsschülern im Bereich „G“. „Die Freiheit fällt flach, dabei stehen diese jungen Menschen in der Blüte des Lebens“, sagt Oeser. Keiner hier leugnet Corona. Viele kennen jemanden, der es hatte. Nicht immer ohne Komplikationen. Denise kommt ins Zimmer, nach sechs Wochen das erste Mal. Sie war infiziert, den Vater hatte es auch erwischt, etwas schwerer. Trotz allem – sie sieht glücklich aus, wieder hier sein zu dürfen. (*Namen der Schüler geändert)